Das Märchen von Vierzig
Es lebte einst ein Mann in Mittelstadt, der trug vierzig Jahre auf
seinem Rücken. Zwanzig davon hatte er mit Demut und Pünktlichkeit jeden
Tag zu dem mächtigen Arbeitsmeister gebracht, der damit in seinem
Herstellungshaus wundersame Dinge baute, die den Menschen das Leben
erleichtern sollten. Doch es kam der Tag, da holte der Arbeitsmeister
ihn aus der Schlange derer, die jeden Morgen zum Herstellungshaus
strömten, und nahm in beiseite.
„Vierzig“, so sprach der Arbeitsmeister, der über die Jahre kugelrund
und glatzköpfig geworden war, „Deine Arbeit war stets von gutem Wert,
darum bedauere ich es nun, dass du gehen musst!“
„Aber wieso? Habe ich etwas getan, was Euch verärgert hat?“, antwortete
Vierzig mit zittriger Stimme.
„Lieber Vierzig, du hast nichts dergleichen getan. Aber die Menschen
sind gesättigt von all den Dingen, die wir für sie gebaut haben. Sie
kaufen immer weniger und so fehlt es mir an Geld, das Herstellungshaus
und alle Erbauer zu halten. Und darum, Vierzig, kannst du deine Jahre
nicht mehr zu mir bringen. Ich habe keinen Platz mehr dafür!“
Der Arbeitsmeister klopfte ihm einmal bedauernd auf die Schulter und
verschwand dann in den Hallen des Herstellungshauses.
Vierzig jedoch wusste zunächst nicht, was er tun sollte. Er kannte nur
den Weg von Mittelstadt zum Herstellungshaus und zurück. Nie war er
einen anderen gegangen. So ging er schließlich zu seinem Haus, das Reihe
in Reihe mit Häusern gleicher Art stand. Dort fand er eine Nachricht in
seinem Briefkasten vor. Mit Entsetzen las er die Worte auf dem Zettel:
Der Arbeitsmeister hat das Haus gekündigt. Vierzig wohnt hier nicht
mehr.
Da weinte Vierzig und packte unter Tränen die Habseligkeiten, die ihm
geblieben waren. Er verließ Mittelstadt und ging auf dem Armenweg nach
Betteldorf. Hier stritten und tranken die Menschen den ganzen Tag. Viele
schliefen auch einfach nur in Ecken und Nischen. Feste Häuser gab es
hier nicht und der Wind pfiff scharf durch löchrige Bretterbuden und
verschmutzte Gassen.
Vierzig war bestürzt über das Elend und die Verzweiflung, auf die er
hier an allen Ecken traf. Da dachte er bei sich, dass das nicht sein
kann. Nach so vielen Jahren, die er duldsam getragen hatte, und von den
vielen Jahren, die er noch tragen wollte, konnte dies nicht seine
Bestimmung sein.
Er schulterte seinen schweren Rucksack und kehrte Betteldorf den Rücken.
Hinter dem Dorf lag der Wald der Ungewissheit, dessen dunkle Tannen sich
drohend im Wind schüttelten. Vierzig zögerte zunächst, denn die
knarrenden Tannen erfüllten ihn mit Furcht. Doch zum Betteldorf wollte
er nicht zurück und so biss er furchtsam die Zähne zusammen und ging mit
vorsichtigen Schritten unter dem schattigen Tannendach. Still und kühl
war es unter den Bäumen, kein Wind regte sich in den Zweigen. Zwei Tage
und Nächte schritt er durch den schweigenden Wald, bis sich eine
Lichtung vor seinen Augen auftat. Ein kleiner Bach plätscherte munter
und die Wiese glänzte im Sonnenlicht. In der Mitte der Lichtung thronte
die größte Rose, die Vierzig je gesehen hatte.
Ehrfürchtig trat er näher und sah mit Bedauern, wiel ein Rosenblatt,
kraftlos geworden, zu Boden sank. Auch die anderen Blätter hingen
bereits glanzlos herab. Da eilte Vierzig zum Bach und schöpfte mit
seinen Händen Wasser daraus, um es zu der Rose zu bringen. Kaum war das
Wasser im Boden versickert, da hob die Rose ihr Gesicht und blickte
Vierzig an.
„Vielen Dank, lieber Mensch! Ich fürchtete schon, dass niemand den Weg
zu mir finden würde bis mein letztes Blatt gefallen ist.“
Ganz sanft war die Stimme der Rose und ein freundliches Lächeln lag auf
ihrem Gesicht. Sprachlos starrte Vierzig die Rose an, die seufzend ihre
weißen Blütenblätter streckte und prüfend in das Sonnenlicht hielt.
„Was bist du?“, sprach er schließlich, „Nie zuvor hörte ich von einer
Rose, die sprechen kann!“
„Ach, mich gibt es in vielen Gestalten, je nachdem, wer auf mich
trifft“, und sie stupste ihn mit einem Blattarm fröhlich an.
„Wie kann ich dir deine gute Tat vergelten? Sag mir, was du dir am
sehnlichsten wünschst!“
Vierzig grübelte lange nach, ehe er antwortete.
„Vierzig Jahre habe ich hinter mir gelassen. Nun suche ich einen Ort, zu
dem ich meine weiteren Jahre tragen und an dem ich etwas für die Zukunft
bauen kann.“
Die Rose klatschte einmal in ihre grünen Blätterhände.
„So soll es sein!“, rief sie und eine Mühle stand auf einmal am Bach.
„Solange du mich mit Wasser versorgst, soll diese Mühle für dich sein.
Dort kannst du Mehl für die Menschen in Betteldorf mahlen, um ihr Leid
zu lindern. Ich werde dir zeigen, wie man aus dem Mehl Zuversichtsbrote
backt und der Zug der Kraniche wird sie zu den Menschen bringen.“
Dankbar umarmte er die Rose und stach sich dabei an ihren Dornen.
„Ach, guter Vierzig, sei vorsichtig, alle Schönheit hat auch immer ihren
Preis. Nun lasse ein wenig von deinem Blut auf diese Wiese tropfen.“
Vierzig tat, was die Rose ihm auftrug. Sobald die Blutstropfen auf den
Boden fielen, wuchsen an diesen Stellen Weinstöcke, die bald die ganze
Lichtung bedeckten.
„Mach aus den Trauben Mildewein und liefere ihn zu den Menschen in
Mittelstadt.“
Vierzig machte alles so, wie die Rose es ihm gesagt hatte, und er trug
mit Freude die nächsten Jahre auf seinem Rücken.
Nach weiteren vierzig Jahren welkte die Rose und selbst das Wasser vom
Bach konnte ihr nicht mehr helfen.
„Es ist nun Zeit zu gehen. Kehre zurück zu den Menschen und trage deine
Jahre nicht mehr auf dem Rücken, sondern umfange jeden Tag dankbar mit
deinen Händen“, waren die Worte der Rose, ehe ihr letztes Blütenblatt zu
Boden fiel.
Die Mühle und die Weinstöcke verschwanden. So kehrte Vierzig schließlich
zu den Menschen zurück.
Erstaunt stellte er fest, dass Betteldorf verschwunden war. An dessen
Stelle stand nun Vielstadt, die von vielen Straßen durchzogen war, die
wiederum zu vielen Kreuzungen führten. Vierzig schwindelte es von den
unzähligen Möglichkeiten, einen Weg zu gehen, und er brummelte: „Das ist
was für die Jüngeren, ich habe nur noch einen Weg zu gehen!“ Schließlich
nahm er die Einbahn und fuhr hoch zur Mittelstadt. Hier waren die Häuser
aus ihren Reihen geflüchtet und standen nun in munteren Runden zusammen.
Zu müde, um den Weg zum Herstellungshaus zu gehen, hielt er einen Mann
an und fragte ihn danach.
„Das Herstellungshaus? Ja, das gibt es noch, aber keinen Arbeitsmeister
mehr. Jeder arbeitet dort im Wechsel, damit jeder für jeden sorgen kann
und den gleichen Anteil an Freizeit hat. Es ist kein Meister mehr nötig,
der bestimmt, wer dorthin gehen darf und wer nicht.“
Erstaunt lehnte sich Vierzig gegen einen weißen Gartenzaun und war ganz
überwältigt von den vielen Veränderungen, die in den Jahren seiner
Abwesenheit geschehen waren. Es war jedoch eine Tür, an die er sich
gelehnt hatte und die nun unter seinem Gewicht nach innen aufschwang.
Vierzig stolperte in den Garten hinein und fiel zu Boden. Nachdem er
sich mühsam wieder aufgerappelt hatte, stand er vor der Eingangstür, an
der mit goldenen Lettern die Zahl vierzig prangte. Darunter war ein
Schild angebracht, auf dem Folgendes stand:
Dies ist das Haus von Vierzig. Er brachte sowohl Zuversicht als auch Milde zu uns und wir danken ihm dafür. Zu diesem Ort möge er in Ruhe sein letztes Jahr tragen.
Da spürte Vierzig, wie ihm alle Jahre vom Rücken genommen wurden, und er schlief friedlich in seinem Haus ein.